Politik ist fast immer persönlich und Persönliches wird schnell zum Politikum. Das ist, per se, ja nichts Schlechtes. Im Gegenteil. Es ist begrüßenswert, wenn das eigene Leben und die eigenen Erfahrungen einem dabei helfen bewusster politische Entscheidungen zu treffen. Gerade im letzten Jahr habe ich, noch deutlicher als bis dato, erleben können, dass die eigene Lebenswirklichkeit immer einfließt in den Abwägungsprozess politischer Entscheidungen.
Aber alles hat Grenzen. Vor allem dann, wenn von Außen entschieden wird, was politisch zu sein hat und was nicht. Und diese Grenze wird gerade überschritten im Fall von Annalena Baerbock. Ich bin keine Grüne und werde sie sicher nicht wählen, aber das wird keinen wundern und hat wohl niemand hier ernsthaft erwartet. Aber ich bin Frau, Politikerin, Mutter, Mensch. Das verbindet mich mit Annalena Baerbock. Und ich kann nachempfinden, was sie derzeit bei manchen Artikeln, Headlines und Diskussionen in verschiedenen Social Media Outlets gerade fühlen muss. Wobei das nicht ganz plötzlich kam, aber eben jetzt die Titelseiten und Headlines füllt. Die Frage ist: Kann Annalena Kanzlerin? Darüber darf man in einer Demokratie geteilter Meinung sein. Das ist legitim. Wer sich einem demokratischen Wettbewerb stellt weiß, dass am Ende auf dem Wahlzettel „abgerechnet“ wird. Verlieren ist natürlich nicht so schön, wie gewinnen. Was aber, aus meiner Sicht, noch viel schlimmer ist, ist die Gewissheit, dass man manchmal vermeintlich gar keine Chance hat. Egal was man macht. Und zwar nicht, weil sich jemand ernsthaft mit den politischen Argumenten auseinandergesetzt hat, sondern einfach nur, weil man Frau und Mutter ist. Stopp! Eigentlich nur, weil man Frau ist. (Ja, ich weiß, solche Situationen treffen auch andere. Hier geht es aber um Frau und Mutter.)
Wie oft müssen sich junge Frauen, die ein politisches Amt anstreben, anhören, sie sollten doch erstmal Kinder bekommen. Oder, wenn man es „besser“ mit ihnen meint, fragt man, wie es denn mit der Familienplanung stehe. Hat irgendwer mitbekommen, dass sich junge Männer solche Sachen anhören müssen? Und nein, die jungen Männer können da nichts für.
Bei Annalena ist das jetzt seit der Nominierung Thema. Die K-Frage? Aber nicht etwa: Kann sie Kanzlerin? Sondern was passiert denn mit den Kindern? Wer kümmert sich denn um sie? Wie verkraften das die Kinder? Ist das nicht „zu viel Trennung“?
Mich macht das ratlos, wütend und traurig. Ich bekomme diese Fragen ja auch gestellt oder höre sie halt hintenrum. Heute. Im Jahr 2021. Niemand fragt einen kandidierenden Vater, wie das denn funktionieren soll. Da geht man ganz selbstverständlich davon aus, dass die Frau ihm den Rücken freihält.
Ich erzähl mal was ganz Witziges: Genau so läuft das bei uns dann auch. Mein Mann hält mir den Rücken frei. Sollte das mit dem Bundestagsmandat klappen, trägt er die Hauptlast in der Zeit, in der ich in Berlin bin. Mir bleiben dann so coole Sachen, wie über Skype Gute-Nacht-Geschichten vorzulesen. Und nein, ich habe kein schlechtes Gewissen. Wieso auch? Das müsste ich nur haben, wenn ich Sorge hätte, dass mein Mann das nicht schafft und das unserer Kinder darunter leiden werden. Aber mein Mann schafft das. Er ist ein ganzer Kerl und kann alles, was ich auch kann – manches sogar besser als ich. Und ja, für die Kinder und für mich würde das (man beachte den Konjunktiv) eine Umstellung bedeuten. Aber das bekämen wir hin. Genau wie Annalena Baerbock und ihr Mann das hinbekommen werden.
Nein, man muss die Grünen nicht wählen, weder wegen noch trotz Annalena Baerbock. Dafür mag jeder seine Gründe haben. Lasst uns über die Inhalte reden. Aber doch verdammt noch mal nicht darüber, dass man einer zweifachen Mutter nicht zutraut Kanzlerin zu können, nur weil sie eben zweifache Mutter ist. Das ist einfach nur rückständig und zutiefst diskriminierend. Und zwar nicht nur der Frau, sondern auch den Männern und Vätern gegenüber. Denn eigentlich beinhaltet die Kritik an der Mutter eben auch den Zweifel an den Fähigkeiten der Väter. Jedes Mal, wenn ich gefragt werde, wer sich denn um die Kinder kümmern würde, wenn ich weg bin, schwingt da halt auch der Zweifel mit, ob der Vater das Fehlen der Mutter ausgleichen kann. Kriegt er es hin, dass die Kinder gut genährt in Kita und Schule sind? Sind sie ordentlich angezogen, gewaschen und die Hausaufgaben gemacht? Bei der klassischen Rollenverteilung stellen sich diese Fragen komischerweise nie.
Irgendwie sind wir in der Gleichstellungsfrage immer noch nicht dort, wo wir sein müssten. Da liegt noch ein ganzes Stück Arbeit vor uns.
Und nein: Das ist kein Wahlaufruf zugunsten von Frau Baerbock auch kein Wahlaufruf für mich selbst. 😉 Ich finde ein emanzipierter Kanzler Olaf Scholz würde uns in Gleichstellungsfragen auch gut voranbringen. Aber meine Wahlentscheidung hat rein gar nichts damit zu tun, dass sie Frau und Mutter ist. Wäre ja auch grotesk. Schließlich in ich beides selbst. Frau und Mutter.
Ich würde mich sehr freuen, wenn Wahlentscheidungen nicht darauf reduziert würden. Gleiches gilt für Publikationen und Diskussionen online und im „realen Leben“.